Impuls zum 21. Mai 2023
Von Günther Harmeling (Idstein), pax christi Rhein-Main
Evangelium vom Siebten Sonntag der Osterzeit: Johannes 17, 1-11a
„Jesus erhob seine Augen zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht. Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt. Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen Gott, zu erkennen, und Jesus Christus, den du gesandt hast. Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast. Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war. Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie gehörten dir, und du hast sie mir gegeben, und sie haben an deinem Wort festgehalten. Sie haben jetzt erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen, und sie haben sie angenommen. Sie haben wirklich erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie sind zu dem Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast. Für sie bitte ich, nicht für die Welt bitte ich, sondern für alle, die du mir gegeben hast, denn sie gehören dir. Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein, in ihnen bin ich verherrlicht. Ich bin nicht mehr in der Welt, aber sie sind in der Welt, und ich gehe zu dir.“
Der berühmte Atomphysiker Niels Bohr soll einst gefragt worden sein: „Herr Bohr, wie kann man sich ein Atom vorstellen?“ Bohrs Antwort sei gewesen: „Versuchen sie es gar nicht erst.“ Die gleiche Antwort möchte man geben auf die Frage: „Wie soll man das Johannes-Evangelium verstehen?“
Aber es kommt noch schlimmer. Die Philosophen des Deutschen Idealismus wie zum Beispiel J.G. Fichte (1762-1814) und G.W.F. Hegel (1770-1831) haben für ihre „Denkgebäude“ wesentliche Anleihen beim Johannes-Evangelium genommen, Hegel zum Beispiel in seiner „Phänomenologie des Geistes“. Unter Philosophen kursiert der Spruch, dass derjenige, der behauptet, Hegel verstanden zu haben, ihn gerade nicht verstanden habe.
Was bin ich auch so dumm, dass ich meine Auswahl für einen Sonntagsimpuls nach dem Datum, mithin nach dem Zufallsprinzip, und nicht nach dem Text getroffen haben. „Datum“ heißt wörtlich ja auch: gegeben. Der Text des heutigen Sonntags ist mir also „zugefallen“, (auf-) gegeben und ich beginne mit der Hoffnung, dass er mir nicht vollends auf die Füße fällt. „Was bedeutet das alles?“ lautet der Titel einer kleinen philosophischen Buchreihe im Reclam-Verlag. Also denn: Was bedeutet das alles?
1. Der Evangelist Johannes ist ein Meister des InEinander-Denkens. „Ich-in-Euch“, „Ihr-in-mir“, „Wir-im-Vater“ und so weiter. „Der Vater“ ist im Sohn verherrlicht, „der Sohn“ ist im Vater verherrlicht, und beide sind „in ihnen (den Jüngern)“ verherrlicht. Das geht so weit, dass bei Johannes Jesu Tod, Auferstehung, Himmelfahrt und Pfingsten am Kreuz „in eins“ fallen. Das heißt: unser gewöhnliches Denken im NebenEinander- und NachEinander muss sich erst einmal daran gewöhnen, sozusagen Um-Denken. Dabei kann einem schon ein bisschen schwindelig werden.
2. Dem Kapitel 17 im Johannesevangelium, also dem Gebet Jesu für seinen Jüngern und für alle Glaubenden, gehen die sogenannten „Abschiedsreden Jesu an seine Jünger“ in den Kapiteln 14 bis 16 voraus. Auch da wieder ein keineswegs heilloses Durcheinander, sondern ein heilvolles Ineinander: „Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch.“ (Joh 14,20). Und, auf den ersten Blick ebenfalls verwirrend: „Ich gehe zum Vater, um eine Wohnung für euch vorzubereiten und euch zu mir zu holen.“ (Joh 14, 2ff.) und: „Wenn jemand mich liebt, wird mein Vater ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“ (Joh 14,23). Was denn nun? Wer wohnt wo? Holen oder kommen? Gastgeber oder Gast? Beides eben. Ineinander.
3. Verherrlichen? Ein sperriges Verb gleich zu Beginn (Joh 17,1). Was bedeutet das? Im Ersten Testament verherrlicht sich Gott selbst in seinen Machttaten zugunsten seines Volkes Israel. Machttaten – das passt noch in unser Denken. Aber hier? Johannes kennt die „Ölbergstunde“ Jesu und seine Frage, ob der „Kelch“ nicht an ihm vorübergehen könnte, nicht. Diese „Stunde“ verlegt Johannes vor das „Abschiedsmahl“ Jesu mit seinen Jüngern: „Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen.“ (Joh 12,27-28). Dass Gott sich in Machttaten und im „Zerschmettern der Feinde“ verherrlicht, das ist eingängig. Aber dass Gott sich in Ohnmacht und Leiden, in Schimpf und Schande am Kreuz „verherrlicht“ – dafür bedarf es einigen Um-Denkens. Das griechische Wort metanoia wird gewöhnlich mit Um-Kehr übersetzt, wörtlich aber müsste es heißen: Um-Denke. „Lasst euch vielmehr von Gott umwandeln, damit euer ganzes Denken umgekehrt wird.“ (Römerbrief 12,2). Angesichts des Kreuzes wird unser ganzes Denken über göttliche Macht und Herrlichkeit sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt.
4. Das Ewige Leben ist: Dich, den einzig wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast (Joh 17,3). Redet hier Jesus über sich selbst in der dritten Person Singular oder redet hier Johannes über Jesus? Man muss diese Frage nicht beantworten, der Vers bietet auch so schon genügend „Stoff“. Das „Ewige Leben“ besteht also in der „Erkenntnis Gottes“. Das riecht auf den ersten Blick nach Gnosis, ist es auf den zweiten aber mitnichten. Zunächst wird klar: Ewiges Leben ist kein unendlich-zeitloses „Jenseits“, das dem endlich-zeitlichen „Diesseits“ auf dem Fuße folgt. Ewiges Leben ist Erkenntnis Gottes. Was aber ist und wie geht „Erkenntnis Gottes“? Ich bleibe im „Johanneischen Korpus“ und lese im 1. Johannesbrief: „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe.“ (1.Joh 4,8). Der Modus der „Erkenntnis Gottes“ ist die Liebe. Wohlge-merkt: die Nächstenliebe. „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.“ (1.Joh 4,16b). Schon wieder dieses Ineinander! Und: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“ (1.Joh 4,20). Damit ist das „Erkennen Gottes“ in-eins gesetzt mit dem „Erkennen des Nächsten“. Erkenntnis Gottes und Erkenntnis des Nächsten aber sind eine Angelegenheit des „Herzens“ und nicht des „Kopfes“. Weshalb wir ja auch von Barmherzigkeit sprechen und nicht von Barmkopfigkeit. Neale Donald Walsch, ein spiritueller amerikanischer Autor, treibt es auf die Spitze mit der Aussage: „Gott hast du erst wirklich erkannt, wenn du ihn im Angesicht deines ärgsten Feindes erkennst.“ Das ist eine Zumutung. In der Tat: eine Zumutung des Evangeliums.
5. Ich habe deinen Namen offenbart. (Joh 17,6). Klarer Satzbau: Subjekt, Prädikat, Objekt. Aber was bedeutet das (alles)? Die jüdische Mystik kennt 72 Namen Gottes, die islamische Mystik sogar 99 Namen Gottes! Unter https://www.namengottes.ch lässt sich dazu Interessantes finden. Alle von mir konsultierten Kommentare weisen darauf hin, dass „der Name“ von jemandem für „das Wesen“ von jemandem steht. Wir kennen dies auch aus anderen Zusammenhängen: „Der-mit-dem-Wolf-tanzt“ ist, im gleichnamigen Film (1990), der Wesens-Name von John Dunbar in der Lakota-Sprache. Der Name bringt das „Wesen“ von John Dunbar zum Ausdruck. Und Gottes Wesen trägt den Namen: „Der-der-die-Liebe-ist“. Beziehungsweise: Gottes Wesen „offenbart“ sich in diesem Namen. Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unerklärlich, warum die „Leseordnung“ des heutigen Sonntags abrupt mit Vers 11a endet und uns den Vers 11b verschweigt. Dort heißt es nämlich: „Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen.“ Erst mit diesem Vers wird die Sache rund: Bewahre sie in deinem Namen, in deinem Wesen, und dieses Wesen ist Liebe. Also: Bewahre sie in der Liebe. Womit wir wieder beim 1.Johannesbrief 4,16b wären (siehe oben unter Abschnitt 4).
Und am Ende? Hatten wir uns mehr erwartet an „Gotteserkenntnis“ und „Offenbarung“ von einem theologischen High-End-Brain wie Johannes? Mehr Spekulatives, mehr Gnosis? Mehr als den sattsam bekannten Verweis auf die (Nächsten-) Liebe, auf die „alltägliche Zumutung des Anderen“ als Ort der Gotteserkenntnis und Offenbarung Gottes? „Die Hölle, das sind die anderen.“, ließ sich einst Jean-Paul Sartre in seinem Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ vernehmen. Johannes behauptet: Die „Anderen“ sind die einzige Tür in den „Himmel“ der Gotteserkenntnis und der Gottesoffenbarung. Johannes biegt all unsere Ambitionen auf hochfliegend spekulative Gottes-erkenntnis um in den banalen Alltag der Begegnung mit den Anderen, die wir uns nicht aussuchen können. Zur Vertiefung empfehle ich an dieser Stelle die Lektüre von: Sabine Hark, Die Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation, Frankfurt 2021, und: Boris Groys, Philosophie der Sorge, München 2022. Sabine Hark schreibt: „An nichtnostal-gischen, dem Ressentiment und der Feinschaft aktiv entsagenden Entwürfen von Gemeinschaftlich-keit arbeiten, ein Ethos des Zusammenlebens stiften, in dem Freiheit und Sorge nicht als Antipoden auftreten, sondern zusammen wirklich werden, und lernen, die Welt zu teilen. Das ist, was jetzt zu tun ist.“ In diesem Sinne: einen schönen Sonntag.
Vielleicht mit einer kleinen „liturgischen“ Übung:
Der Text des heutigen Evangeliums wird auch als „Das hohepriesterliche Gebet Jesu für seine Jünger“ oder kürzer als „Jesu Fürbitte für die Jünger“ bezeichnet. Fürbitte ist, so würde man wohl heute sagen, ein Aspekt von Caring-Arbeit. Oder, wie es der Theologe Kurt Marti formulierte: ein Akt hilfloser Zärtlichkeit. Im Buddhismus gibt es die Tradition der „Namens-Meditation“, die ich hier als kleinen liturgischen Akt (nicht nur) für den heutigen Sonntag vorschlagen möchte. Nimm Dir vielleicht eine Viertelstunde Zeit dafür. Sorge für eine ruhige Umgebung.
Setz dich bequem hin, vielleicht zündest du auch eine Kerze an. Komm zur Ruhe, achte darauf, wie dein Atem kommt und geht. Dann lass Namen (und vielleicht auch Gesichter) in dir aufsteigen – und lass sie wieder gehen. Vielleicht lässt Du sie beim Einatmen aufsteigen, und beim Ausatmen wieder gehen. Das können Namen und Gesichter aus deinem Bekannten- und Freundeskreis sein, aber auch Namen und Gesichter aus „Politik und Gesellschaft“, auch Gesichter von Namenlosen, die Du vielleicht in den Nachrichten gesehen hast und dich sich in Deinem Gedächtnis festgesetzt haben. Du kannst auch beim Einatmen die Gesichter und Namen in Dir aufsteigen lassen, und ihnen beim Ausatmen und Loslassen ein „Der Friede sei mit dir“ zusenden. Das hat nichts mit Telepathie zu tun. Mach Dir weder vor noch während der Übung eine „Liste der Namen“, lass sie einfach kommen und gehen, wie es sich ergibt, oder besser: wie sie kommen und gehen. Mach Dir auch keine Gedanken, warum Dir ausgerechnet diese und nicht andere Namen und Gesichter in den Sinn kommen. Das ist nicht der Sinn der Übung. Vielleicht ist das der Sinn einer nachträglichen „Reflexion“ der Übung, vielleicht aber nicht einmal das. Vielleicht wirst Du Dich wundern, wer da alles in Dir aufsteigt. Wundere Dich kurz, lächle darüber und lass den Namen wieder los: „Der Friede sei mit dir!“. Eben. Vielleicht machst Du dabei die Erfahrung, dass das komplizierte johanneische Ineinander („sie in mir – ich in ihnen – und so weiter…“) gar nicht so „wunderlich“ ist…